Scheitern als Vollendung? – Zum non finito Michelangelos
Vortrag von Nadja Görz (MA), wissenschaftliche Mitarbeiterin Cusanus Hochschule
Entgegen der ästhetischen Norm der Zeit, die eine vollständige Ausarbeitung der Skulpturen vorsah, sticht das non finito – die vor der letzten Glättung, in unterschiedlichen Stadien des Arbeitsprozesses abgebrochene Werkform – in der Kunst des Renaissance-Bildhauers Michelangelo Buonarottis (1475-1564) heraus. Der Künstler selbst empfand diesen vorzeitigen Abbruch seiner Werke als persönliches Scheitern, das er über die technische Umsetzung hinaus als ein metaphysisches Problem verstand – gemessen an der Maßgabe seines höchsten Ziels, der Vollendung in Gott. Als spiritueller Künstler im Kontext des Florentiner Neuplatonismus erstrebte er durch sein Schaffen eine Versöhnung mit der irdischen Welt, um sein Leid an der Trennung der Seele von Gott erträglich zu machen. Der Vortrag möchte anhand des bildhauerischen Werks und der Dichtung diesen höchst autobiographisch geprägten Konflikt nachzeichnen und auf die philosophische Dimension der Kunst Michelangelos hinweisen. Bis heute bewundern wir vielleicht nur vordergründig die gewaltige Ausdruckskraft der bewegten Riesenleiber, die mit einer völlig neuartigen Expressivität einhergeht, sondern vielmehr die innere Dimension der geistigen Schönheit und Freiheit ihres Urhebers.
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